Die Pflegemutter Anna Kornfeld: "154 Wochen KZ"
Er sei mit ausgebreiteten Armen auf Anna Kornfeld zugelaufen und habe ihre Bein umklammert, schilderte Harry Gelbfarb sehr viel später die erste Begegnung mit seiner Pflegemutter. Der damals vierjährige Harry war gleich nach der Geburt von seiner Mutter ins Waisenhaus gebracht worden. Anna Kornfeld war bereits 41 Jahre alt, als sie und ihr fünf Jahre älterer Mann Erwin ihr Pflegekind zu sich nahmen. Die 1893 als Anna Löwy Geborene hatte ihren Mann 1923 geheiratet.
Das Familienglück währte nur wenige Jahre: Nach dem „Anschluss“ Österreichs begann die Schikanierung der jüdischen Bürger. Harry wurde wie allen anderen jüdischen Kindern der Besuch öffentlicher Schulen verboten. Vergeblich stellten die Kornfelds Ausreiseanträge bei der Israelitischen Kultusgemeinde. Nach den Novemberprogromen wird Erwin Kornfeld zusammen mit 3700 Wiener Juden ins KZ Dachau deportiert. Anna Kornfeld stellt in dieser Zeit weiterhin Ausreiseanträge, im Mai 1939 wird Erwin Kornfeld "zum Zweck der Ausreise" aus dem KZ entlassen. Doch die Emigration nach Shanghai scheitert. In der Zwischenzeit verschärfen sich die Zwangsmaßnahmen gegen die jüdische Minderheit. Mit dem "Gesetz über die Mietverhältinisse" werden die Juden gezwungen, von ihren angestammten Wohnungen auszuziehen und in engen, schlechteren Unterkünften zu hausen. So muss auch die Familie Kornfeld von der Glockengasse in die Franz-Hochedlinger-Gasse 8/7 umziehen. Nach Kriegsausbruch wird den Juden der Besitz von Radios und das Benutzen öffentlicher Parks verboten.
Erst KZ, dann Gulag
Doch für die Familie Kornfeld kommt es noch schlimmer: Am 21. Oktober 1939 wird Erwin Kornfeld mit 300 jüdischen Handwerkern nach Nisko deportiert. Auf Befehl von Adolf Eichmann sollen sie dort Baracken errichten, die ersten Bauten für ein jüdisches Reservat, mit dem die Nazis die angebliche "Judenfrage" lösen wollen. Wenig später wird Erwin Kornfeld mit anderen Zwangsarbeitern mit Warnschüssen und Schlägen über die Demarkationslinie in den sowjetisch besetzten Teil Polens getrieben. Bei den sowjetischen Behörden setzen sich die Österreicher für ihre Rückkehr in die Heimat ein. Doch in der Logik des stalinistischen Terrors entlarvt sie das als imperialistische Spione. Erwin Kornfeld und seine mehr als 1000 Leidensgenossen müssen für mehr als ein Jahrzehnt in den Gulags Zwangsarbeit leisten. Die Tortur überleben nur rund 100 von ihnen, darunter Erwin Kornfeld.
Nach ihrem Mann wird zwei Jahre später Anna Kornfeld verschleppt, Harry überlebt in einem jüdischen Kinderheim. Im Oktober 1941 beginnt die Deportation der gesamten jüdischen Gemeinde Wiens in die Konzentrations- und Vernichtungslager in Osteuropa.
Harry Gelbfarb und seine Pflegemutter Anna Kornfeld. Bis zu ihrem Tod standen sich die beiden sehr nahe. (Foto: Nachlass Gelbfarb)
Anna Kornfeld wird im Februar 1942 ins Ghetto Riga verschleppt. Die Fahrt in den Güterwaggons von Wien dauerte vier Tage. Die rund 13 000 Insassen mussten Zwangsarbeit innerhalb und außerhalb des Lagers verrichten. Die Lebensbedingungen verschlechterten sich noch, als das Ghetto Ende 1943 geräumt und die arbeitsfähigen Männer und Frauen in das neu errichtete KZ Riga-Kaiserwald verlegt wurden. Sie wurden von ihren Angehörigen getrennt, ihnen wurden die Köpfe geschoren und sie mussten Häftlingskleidung tragen. Die Überlebende Erna Valk erzählte später: „Wir mussten Kähne und Waggons mit Kies entladen. Loren entladen und fortschieben, den Kies und Zement einschaufeln in Betonmischmaschinen etc. (…) Unser Mittagessen erhielten wir an der Arbeitsstelle, ½ Liter Wassersuppe pro Person unter freiem Himmel oder Regen.“ Im September 1944 evakuierte die SS das Lager, wobei sie alle Jungen, Älteren und Kranke erschoss.
Die Wenigsten überlebten
Zuvor wurde Anna Kornfeld ins 40 Kilometer östlich von Danzig gelegene KZ Stutthof geschafft. Laut Erna Valk waren die Zustände dort noch fürchterlicher als in Riga: „Todmüde kalt und hungrig schliefen wir zu 4 Frauen in unserem schmalen Bett ohne Decke. Flöhe, Wanzen, Läuse – alles war da zu unserer Qual. Die Frauen wurden von den SS-Weibern und Sträflingen blutig geschlagen, totgeschlagen. Auch ließ man Frauen nach einem heißen Bad stundenlang nackend draußen in eisiger Kälte stehen. Viele wurden irrsinnig.“ Von den rund 110 000 Inhaftierten in Stutthof kamen etwa 65 000 um, viele davon auf den Todesmärschen bei der Evakuierung des Lagers. Wie Anna Kornfeld diese Zeit überlebte, ist nicht bekannt. Doch gibt ihr Mitgliedsausweis des Verbandes der österreichischen KZ-Häftlinge den „21. Jänn 1945“ als Ende ihrer Haftzeit an, drei Tage vor dem Befehl zur Evakuierung des Lagers.
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Dieser Artikel Text schildert die schwere Kindheit und Jugend Gelbfarbs im Wien der NS-Zeit. Nur knapp entging er der Deportation in ein Vernichtungslager. Download als PDF